Geisterleben - Geist erleben: Kapitel 2 - Thea

© 13.01.2023- Jürgen Sorko

Ich muss hier raus! Im Ernst, ich habe das Gefühl, das Dach bricht über mir zusammen. In so eine verzwickte Situation habe ich bislang noch nicht gebracht. Ich bin ein Geist und ich habe keinen Plan von Geistern. Wo leben Geister, wie leben Geister? Was essen Geister, was trinken Geister? Was kann ich tun? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich im Augenblick nicht hierbleiben kann.

Langsam erhebe ich mich aus meiner kauernden Haltung und verlasse mein Zimmer. Ich schleiche nach unten. Mama und Papa sind beschäftigt. Klar, die haben jetzt eine Menge zu erledigen. So ein Tod macht den Angehörigen ganz schön viel Arbeit. Ich höre etwas von Begräbnis, doch ich will mich gerade gar nicht damit beschäftigen. An der Türe beobachte ich sie und in einem geeigneten Moment schlüpfe ich in den Vorraum. Weiter durch die Haustüre und ins Freie. Ich atme die frische Luft ein und gehe einfach drauflos.

Also gut, ein Plan. Ich einen Ort, an dem ich bleiben kann. Zum Glück ist es Sommer, also kann ich fürs erste auch irgendwo im Freien übernachten. Oder ich ziehe in ein Möbelhaus ein. Das klingt besser. Ich benötige Zugang zum Internet, denn ich muss nachforschen und mehr über Geister lernen. Ha, vielleicht sollte ich Tom einen Besuch abstatten. Tom geht mit mir in die gleiche Klasse und er hat ein Faible für alles Außernatürliche. Ein richtiger Nerd.

Eines nach dem anderen. Internet, ein passendes Möbelhaus auskundschaften und Tom besuchen. Heute ist Samstag, das heißt, ich habe Zeit bis kurz vor sechs am Abend, dann sollte ich in meiner neuen Residenz sein. Während meine Gedanken so vor sich hinplätschern, führen meine Beine mich wieder durch den Wald in Richtung Stadt. Ich gehe und denke. Denke und gehe.

Mein Handy ist weg, außerdem wird es bestimmt bald gesperrt. Eine Prepaid SIM-Karte kann ich leicht stehlen und an Aufladebons komme ich sicherlich ran. Ein Handy oder Tablet zu stehlen, wird schon schwieriger. Ist ja nicht so, dass ich es hinter meinem Rücken verstecken könnte. Also brauche ich Hilfe. Tom. So weit so gut, ich habe nur keine Ahnung, wo er wohnt. Denk nach, verdammt, denke nach. Ich habe seine E-Mail-Adresse in meinen Kontakten gespeichert. Oh, ich habe einen Geistesblitz! Schlechte Wortwahl. Ich habe eine Idee!

Eine Stunde später und nach etwas herumirren bin ich an meinem Ziel angelangt. V-Space Internet Café. Ich geh auf die Tür zu und beinahe wäre ich mit der Nase gegen die Scheibe geknallt. Der automatische Türöffner erkennt mich nicht. Echt mal, Geist sein ist scheiße! Muss ich echt warten, bis mir jemand die Tür öffnet? Ich stehe ganze fünf Minuten, also eine Ewigkeit, vor der geschlossene Tür, bis endlich ein Gast das Café verlässt. Ich husche hinein.

Das Café ist ziemlich klein. An der linken Seite eine Theke, dahinter der Kerl, der hier bedient. Vor mir ein länglicher Tisch mit vier Computerplätzen an beiden Seiten. Drei Gäste sind da. Zwei junge Frauen auf der linken Seite, die zusammen irgendetwas machen und auf der rechten Seite, am hintersten Platz, ein älterer Mann. Ich wähle ebenfalls die rechte Seite aus, so kann der Barkeeper mir nicht auf den Monitor glotzen. Und der alte Sack ist hoffentlich so blind, dass er nichts bemerkt. Ich nehme gleich den ersten Platz, das sind dann gute drei Meter Abstand. Muss reichen. Ich ziehe den Stuhl weg und… Oh shit! Ups.

Der Mann schaut mich direkt an. Nein, nicht mich, den Stuhl, der sich sprichwörtlich von Geisterhand bewegt hat. Er runzelt die Stirn, rückt seine Brille zurecht und lenkt sein Augenmerk wieder auf den Bildschirm vor sich. Man, wie dumm von mir. Langsam und ganz vorsichtig lasse ich mich auf dem Stuhl nieder. Ich beiße mir auf die Unterlippen und bewege die Maus ein kleines Stück. Das Display vor mir schaltet sich ein. Wieder blickt der alte Sack in meine Richtung. Glotz nicht so, das ist mir unangenehm!

„Da ist gerade ein Computer ein gegangen“, sagt er laut zum Barkeeper. Ja danke schön! Außerdem hat sich ein Stuhl von alleine bewegt. Kümmere dich um deinen Scheiß.

„Passiert, wenn der Tisch wackelt“, gibt der Mann hinter der Theke gelassen zurück. Immerhin war er auf meiner Seite. Der alte Sack gibt ein „ah“ von sich und richtet den Blick auf seinen Bildschirm. Dieses Mal warte ich etwas länger, gebe den grauen Zellen des Herren Zeit, sich wieder in seine Angelegenheiten zu vertiefen, bevor ich zur Aktion schreite. Es klappt, aber ich muss mich unauffällig verhalten. Also bewege ich die Maus nur langsam und tippe als würde die Tastatur auf rohen Wachteleiern liegen. Eine echte Geduldsprobe. Aber es funktioniert. Ich schreibe Tom eine Mail.

An: iknowitall2003@gmail.com
Von: thea.lopin@gmail.com
Betreff: Ich brauche Hilfe!

Hallo Tom! Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden kann. Du glaubst ja an diesen übernatürlichen Scheiß, oder? Ich bin tot, aber nicht wirklich. Ich bin ein Geist. Wo wohnst du, damit wir reden können?

lg Thea

Ja, es ist nicht die längste E-Mail, aber denk dran, ich muss auf den alten Sack und die Tür aufpassen und sofort aufhören, wenn mich jemand sehen könnte. Das macht es nicht leicht. Jetzt sitze ich wie auf Stacheln und warte auf eine Antwort.

An: thea.lopin@gmail.com
Von: iknowitall2003@gmail.com
Betreff: AW: Ich brauche Hilfe!

Haha, sehr witzig. Such dir jemand anders zum Verarschen.

Ich hätte es mir eigentlich denken können. Ich würde so einer E-Mail auch nicht glauben, aber was soll ich machen? Wahrscheinlich weiß er noch nicht mal von meinem Unfall. Ich brauche doch nur seine Adresse, verdammt. Ich mache mich wieder an die Arbeit.

An: iknowitall2003@gmail.com
Von: thea.lopin@gmail.com
Betreff: AW: Ich brauche Hilfe!

Es stimmt, google mal die Nachrichten. Ich wurde gestern von einem Auto niedergefahren. Also warum sollte ich dich verarschen? Tom Wosiak, Ihr seid meine letzte Hoffnung! Ich brauche nur deine Adresse. Bitttttteee!

Thea

Ob das Star Wars Zitat schlau war? Irgendwie finde ich es lustig. Wieder warten. Wie ich das hasse. Zwischenzeitlich haben die beiden Frauen das Café verlassen und der alte Sack hat sich noch einen Latte bestellt. Ich bin gar nicht durstig und nicht hungrig. Pinkeln musste ich seit gestern Nacht auch nicht mehr. Interessant. Ich hoffe, das bleibt so, das erleichtert mir mein Geisterdasein.

Neuer E-Mail-Eingang, sofort lesen! Tatsächlich schickt Tom mir seine Adresse. Kommentarlos. Eine Onlinekarte hilft mir herauszufinden, wo das ist. Eine Wohnung in der Stadt. Ich schließe den Browser und öffne den Texteditor, um dem Internet Café eine Nachricht zu hinterlassen: Du wurdest gehackt! Nicht weil ich es sonderlich originell finde, sondern falls meine Taten aufgezeichnet wurden. Warum ich an so etwas denke? Danke Papa. Jetzt muss ich nur noch abwarten, bis jemand kommt oder geht. Automatische Türen müssen des Teufels Werk sein.

Weiter bei Kapitel 3 - Tom

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