Geisterleben - Geist erleben: Prolog

© 11.01.2023 - Jürgen Sorko

Irgendetwas ist eigenartig. Ich liege auf dem Rücken, es riecht nach Asphalt und ein wenig metallisch. Dazu gesellt sich eine feine Note von verbranntem Gummi. Diese Kombination trifft definitiv nicht meinen Geschmack. Und dieser dumpfe Lärm: Stimmen, Sirenen, Autos. Ich will doch nur schlafen. Finster.

Moment, das ist nicht mein Bett! Wo zum Teufel bin ich und was mache ich hier? Augen auf! Autsch, das blendet. Ich blinzle gegen das helle Licht an, während ich mich aufrichte. Schemenhaft beginne ich meine Umgebung wahrzunehmen.

Das helle Licht, eine Straßenlaterne vor der dunkelblauen Dämmerung. Das Blaulicht eines Polizeiautos, die Stimmen der Einsatzkräfte. Straße, Straße, Kreuzung, Absperrband und ich mittendrin und ohne Plan, was zuletzt geschehen ist.

Das waren wirklich zu viele Cocktails, ermahne ich mich selbst. Allerdings habe ich keinen Kater. Bei so einem Blackout müsste mir der Schädel dröhnen. Schritte, einer der Polizisten kommt auf mich zu. Schnell rapple ich mich auf, um zumindest einen Rest an Würde zu bewahren, als der Blitz in mich einschlägt. Der Blitz des Polizisten-Fotoapparats. Ein großes Aufsteckteil. So wie meine Haut kribbelt, hätte es auch ein Gewitterblitz sein können. Hat der mich einfach fotografiert! Ich bereite mich darauf vor, dem Polizisten zu erklären, warum ich auf der Straße schlafe, ohne selbst den Grund zu kennen. Verfluchter Alkohol.

Der Mann geht ein paar Schritte und sagt kein Wort. Blitz – autsch! Das ist unhöflich, mich einfach nochmals zu fotografieren, ohne etwas zu sagen. Hey, ich stehe hier und lebe noch, habe nur zu viel getrunken, du Arsch, geht mir durch den Kopf. Ich öffne den Mund, um ihm etwas dergleichen um die Ohren zu werfen.

„Guten Abend!“, begrüße ich den Polizisten freundlich. Gute Erziehung kicks in. „Ich bin Thea Lopin und …“ Blitz! Man, mir brennen die Augen und abermals spüre ich dieses widerliche Kribbeln auf meiner Haut. So viel dazu, höflich zu sein. Und was fotografiert der Kerl eigentlich? So wie er die Kamera hält, ist mein Gesicht sicherlich nicht auf dem Bild. Perplex starre ich den Polizisten an und verfolge ihn, als er weitere Schritte macht und den Fotoapparat hebt … Schnell reiße ich meinen Arm vor das Gesicht und schließe die Augen. Trotzdem spüre ich, wie es blitzt. Was für eine Kamera ist das bloß?

„Ich bin hier fertig“, höre ich den Polizisten rufen. Vorsichtig wage ich es, meine Augen zu öffnen und sehe den Mann mit der Thea-Folterkamera weggehen. Wie skurril ist das bitte? Kurz überlege ich, ob ich meine Arme heben, winken und laut rufen sollte. Anderseits ist es vielleicht besser, nicht aufzufallen. Ich senke den Blick, neugierig, was der Polizist fotografiert haben könnte, in der Hoffnung, dass es nicht nur mein Körper war.

Ein kurzes Quieken entfährt meiner Lunge und ich springe zur Seite. Ich bin inmitten einer Kreidezeichnung gestanden. Besser gesagt, im Umriss eines menschlichen Körpers. Das wäre nur halb so wild, wäre der Asphalt an dieser Stelle nicht rotbraun gefärbt. Neben dem Umriss ist ein kleines Schildchen auf dem Boden, auf dem eine Eins steht. Ich bin besoffen auf dem blutigen Asphalt gelegen? Mir wird kotzübel. Lichter blitzen vor meinen Augen. Nein. Nein! Schwarz.

Ich komme zu mir. Es ist ruhig geworden. Die letzten Momente, bevor ich das Bewusstsein verloren habe, ziehen vor meinem inneren Auge vorbei. Die Kreideumrisse, das Blut … Ich springe vom Boden auf. Tatsächlich bin ich immer noch neben der Straße auf dem Radfahrweg gelegen. Es ist Nacht geworden. Ich suche den Boden ab. Keine Kreide, kein Blut. Verfluchter Alkohol! Ich werde nie wieder auch nur einen Schluck davon trinken, schwöre ich mir hoch und heilig. Dabei weiß ich jetzt schon, dass das nur für die nächsten paar Wochen hält. Egal.

Also gut, es wird Zeit, nachhause zu gehen und ordentlich auszuschlafen. Ich atme tief durch und lasse meinen Blick schweifen, um herauszufinden, wo ich überhaupt bin. Schnell erkenne ich die Kreuzung, sie liegt auf dem Weg in die Stadt hinein. Es ist nicht weit von zu Hause entfernt, doch ich wünsche, ich hätte mein Fahrrad bei mir. Zu Fuß werde ich eine halbe Stunde benötigen. Andererseits habe ich so Zeit, meine Gedanken ordnen und das Geschehene zu verarbeiten.

Ich biege in unsere Straße ein. Fast da! Zwar fürchte ich mich nicht im Dunkeln, aber der Abschnitt, an dem der Weg durch das Waldstück führt, ist trotzdem unheimlich. Das könnte damit zu tun haben, dass mein Papa mir immer von den Geistern erzählt hat, die dort nachts ihr Unwesen treiben, damit ich als Kind nicht zu weit von zu Hause weglaufe. Obwohl ich unterwegs mein Hirn marterte, ist mir noch immer nicht klar, was ich angestellt habe. Mir ist zumindest eingefallen, dass ich nach der Schule zu Jessica gefahren bin – mit meinem Fahrrad und meiner Umhängetasche und wir uns einen Film angesehen haben.

Endlich angekommen, öffne ich das Gartentor und gehe auf die Haustüre zu. Dabei winke ich freundlich in unsere Überwachungskamera, die Papa vor zwei Wochen installiert hatte. Unsere Haustüre lässt sich, dem Himmel sei Dank, auch mit einem Zahlencode öffnen, so muss ich nicht Mama und Papa aus dem Bett klingeln, weil meine Schüssel irgendwo liegen. Die Vorteile, wenn Papa ein Technikfreak ist. Der Nachteil, er sieht morgen eine Nachricht auf seinem Handy, dass in der Nacht Bewegung aufgezeichnet wurde und weiß somit noch vor mir, wann ich heimgekommen bin. Aber hey, ich bin neunzehn Jahre alt und seit meinem achtzehnten Geburtstag gab es keine Beschwerden mehr. Immerhin bin ich jetzt alt genug, um zu wissen, was ich tue. Ha, denken sie! Dachte ich bis vor wenige Stunden auch noch.

Ich tippe den Code ein und öffne die Haustüre. Als ich aus meinen Schuhen schlüpfe, höre ich Musik aus dem Wohnzimmer. Mist, sie sind noch wach! Naja, was solls. „Hallo“, grüße ich gedämpft in den Raum, als ich das Wohnzimmer betrete. Im Erdgeschoss haben wir einen großen Raum, der Wohnzimmer und Esszimmer zugleich ist. Auch die Küche ist noch in dem gleichen Raum, jedoch hinter dem Treppenhaus ums Eck, sodass man nicht direkt hineinblickt. Wenn ich also die Treppe rauf in mein Zimmer will, muss ich diesen Raum, ich nenne ihn einfach nur Wohnzimmer, betreten.

Nur Mike Oldfield antwortet mir mit Moonlight Shadow. Ich schalte das Licht ein und schaue über die Couch, ob Mama oder Papa hier eingeschlafen sind. Aber nein. Eine Flasche Wein steht auf dem Wohnzimmertisch und zwei gefüllte Gläser. Ich grinse. Na, das war heute nicht die erste Flasche.

„Alexa, stopp“, sage ich leise, um die Musik abzustellen. Keine Reaktion. Doofe Alexa. Ich versuche es nochmals. Vergebens. Wahrscheinlich hat Papa das Keyword geändert, damit Alexa nicht immer angeht, wenn der Name irgendwo fällt. Technikfreak und so. Gefühlt funktionieren sowieso alle Geräte jeden Tag anders. Mir egal, soll sie eben die ganze Nacht Musik spielen, davon wird auch niemand sterben. Also husche ich im Dunkeln die Treppen rauf. Bad oder Bett? Ich entscheide mich für das Bad, immerhin habe ich wer-weiß-wie-lange auf der Straße gelegen. Und da meine Eltern nicht einmal mehr daran dachten, die Musik abzustellen, werden sie vom Duschgeräusch schon nicht aufwachen.

Ich schließe die Badezimmertüre hinter mir und drehe das Wasser in der Dusche auf, damit es schön warm ist, bis ich bereit bin. Ich mustere meine Arme und Beine, doch ich bin erstaunlich sauber, dafür, dass ich auf der Straße geschlafen habe. Nicht einmal einen Schmutzfleck sehe ich an mir. Ich zieh mich aus und betrachte meine Kleidung. Shorts und Shirt sind ebenfalls sauber. Glück gehabt, dass mit dem Blut war wohl Einbildung. Mittlerweile dampft es aus der Dusche und der Spiegel ist vollkommen mit Dunst überzogen. Also betrete ich die Dusche, drehe die Temperatur zurück, bevor ich mich unter den Regenduschkopf stelle.

Laut kreischend springe ich zur Seite. Dabei wäre ich beinahe auf dem nassen Boden ausgerutscht und gestürzt. Nein, es liegt nicht an der Temperatur. Das Wasser ist weder zu kalt, noch zu heiß. Es ist … gar nicht. Zitternd strecke ich meinen Arm aus, um die Hand unter das Wasser zu halten. Ich sehe, wie es aus dem Duschkopf kommt, meine Hand berührt und … einfach hindurchgeht, als wäre sie nicht da. Mein Herz kann sich nicht entscheiden, ob es einfach stehen bleiben oder vor Panik aus meiner Brust springen soll. Schnell ziehe ich die Hand zurück. Sie ist trocken. Ich kneife für drei Sekunden die Augenlider zusammen. Das muss eine optische Täuschung sein. Wieder halte ich die Hand in das Wasser und unverändert ignoriert mich das Wasser einfach. Es fließt durch mich hindurch. Was zum Teufel?!

Ich atme tief ein und aus, versuche nicht panisch zu werden und halte meine Hand weiterhin tapfer unter den Duschkopf. Ich bewege sie auf und ab, hin und her und plötzlich spüre ich das warme Wasser auf meiner Haut. Es prasselt auf die Hand, läuft darüber, wie es richtig ist. Wie es sich für ordentliches Wasser gehört. Okay, das ist wirklich unheimlich. Dagegen ist das finstere Waldstück mitten in der Nacht regelrecht behaglich. Ich weiß nicht warum, doch ich beginne zu kichern. Wie ein fünfjähriges Mädchen. Nicht weil ich es lustig finde, sondern weil es so surreal ist.

Mit pochendem Herzen stelle ich mich unter das Wasser und, dem Himmel sei Dank, geht jetzt alles mit rechten Dingen zu. Nach einer gefühlten Ewigkeit verlasse ich die Dusche, wickle mich in mein Handtuch und tapse in mein Zimmer. Erstaunlich, dass ich mit meinem Gekreische niemanden geweckt habe. Ich zieh mein Nachthemd an und lege mich ins Bett. Ich habe genug von heute. Gute Nacht!

Weiter bei Kapitel 1 - Thea

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