Geisterleben - Geist erleben: Kapitel 3 - Tom

© 14.01.2023- Jürgen Sorko

Ich höre eine Stimme von außen durch meine Kopfhörer. Über die lauten Schüsse hinweg verstehe ich die Worte nicht. Trotzdem bin ich abgelenkt und in diesem Moment erwischt mich der gegnerische Sniper. Shit, wieder verloren. Ich nehme die Kopfhörer ab. „Waaas?“, brülle ich durch die geschlossene Tür.

„Ich fahre einkaufen. Soll ich dir etwas mitbringen?“, höre ich meine Mutter rufen.

Ich rolle mit den Augen und denke an das verlorene Match. „Nein, bis später!“, gebe ich lautstark zurück. Die Antwort nehme ich gar nicht mehr wahr, denn ich habe die Kopfhörer schon wieder aufgesetzt und klicke auf den Spawn-Punkt, bevor mich das Spiel irgendwo wiederbelebt. Zeit für eine Revanche. Ich spiele noch ein paar Runden, doch irgendwie finde ich nicht mehr in das Spiel hinein, also beende ich es. Ich checke meine Mails, doch es kam keine weitere Nachricht von Theas E-Mail-Adresse. Beiläufig greife ich nach meinem Stressball auf dem Schreibtisch und knete ihn mit einer Hand.

Wahrscheinlich hat eine Freundin Zugriff auf ihr Mailkonto und macht sich einen Scherz. Oder jemand fälscht die Absenderadresse. Creepy. Aber ich bin ja selbst schuld. Hätte vor drei Jahren nicht erzählen sollen, dass ich manchmal Geister beschwören versuche. Da ich nicht zu den coolen Jungs gehöre, bin ich ein leichtes Opfer. Mir ist’s egal. Theas Tod dafür benutzen ist jedoch schmutzig. Ich glaube, das ist es, was mich stört und ablenkt.

Mit einem Seufzer wische ich die Gedanken beiseite und werfe den Ball wieder auf den Tisch. Ich hole mir etwas zu trinken aus der Küche. Mist, ich hätte meiner Mutter sagen sollen, dass sie mir einen Energy Drink mitbringt. Ich habe heute Nacht noch ein Gaming-Turnier zu spielen und das dauert meistens länger. Ich fülle ein Glas mit Wasser. Thea… viel Kontakt hatten wir nicht, sie hing meistens mit Jessy ab und außerhalb der Gaming-Szene bin ich ein uninteressanter Typ. Zurück an meinem Schreibtisch lasse ich mich in den Stuhl fallen und… what the fuck?

Hallo Tom, ich bin jetzt hier. Thea

Der Texteditor ist geöffnet und diese Worte stehen in dem Fenster. Schnell greife ich zur Maus und beginne meinen Computer durchzuchecken. Habe ich mir einen Trojaner eingefangen? Läuft ein Programm zur Fernsteuerung des Computers? Ich kann nichts finden, doch zur Sicherheit ziehe ich das Netzwerkkabel raus. Das sollte alle ungebetenen Gäste rauswerfen. Überlegend, wie ich weiter vorgehe, trinke ich einen großen Schluck. Was, wenn… nein, das kann nicht sein! Das kann nicht real sein. Meinen Respekt, wer auch immer dahinter steckt ist nicht nur creepy, sondern auch gut. Sehr gut sogar.

Langsam beruhige ich mich wieder. Der Angreifer kennt meinen Namen und weiß, dass ich Thea kenne. Also ist es sicherlich jemand aus meinem Bekanntenkreis und steckt sicher auch hinter den E-Mails. Einmal durchatmen. Ich stelle das Glas auf den Tisch und stecke das Netzwerkkabel wieder in den PC. Dann tippe ich unter die Zeile im Editor.

Hallo, wer auch immer du bist. Das war gut ausgeführt. Allerdings finde ich es nicht okay, jemandes Tod für so einen Scherz zu benutzen. Außerdem will keinen Trojaner auf meinem PC haben, welche Software benutzt du?

Ich lehne mich zurück und warte. Starre den Bildschirm an. Vielleicht kommt auch gar nichts mehr, weil ich die Verbindung unterbrochen hatte. Lange muss ich mich nicht gedulden, weitere Buchstaben schreiben sich. Gespannt beuge mich vor, um zu lesen. Dabei höre ein leises Klackern.

Ich stehe mit rasendem Herzen an die Wand gepresst und mir bleibt die Luft weg. Ich weiß nicht, wie ich mich so schnell bewegen konnte. Mein Stuhl ist quer durch den Raum geschossen. Ein Schauer läuft mir über den Rücken und alle Haare stellen sich auf. Mit geweiteten Augen fixiere ich meine Tastatur. Gerade passiert nichts, doch jetzt bewegen sich die Tasten wieder. Langsam drücken sie sich von alleine und schreiben Worte. Ein weiterer Satz steht im Editor. Angst fährt mir in Arme und Beine. Wäre die Wand nicht hinter mir, würde ich umfallen. Ich will weglaufen, doch mein Körper reagiert nicht.

Der Cursor blinkt herausfordernd, als würde jemand ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch trommeln. Meine Lunge brennt, ich muss atmen. Langsam löst sich der Krampf in meinen Gliedmaßen und ich beginne zu zittern. Schlussendlich siegt die Neugierde, während mein Verstand nicht begreifen will, was ich gesehen habe. Ich fühle mich unwirklich, als ich zum Schreibtisch zurückkehre.

Ich bin Thea und ich bin hier, tippe auf deiner Tastatur. Du kannst ruhig sprechen, ich kann dich hören, nur du mich nicht. Sorry fürs Erschrecken.

Unmöglich kommt mir als erstes in den Sinn. Doch ich weiß, was ich gesehen habe. Noch immer spüre ich den Drang, einfach wegzulaufen. Ich finde Übernatürliches spannend und interessant, aber wirklich daran geglaubt habe ich nie und das fällt mir auch jetzt schwer. Ich nehme allen Mut zusammen, den ich in mir finden kann. „Du bist hier?“, spreche ich in den Raum hinein. „Kannst du es mir noch irgendwie beweisen?“

Einmal ausgesprochen hört es sich total bescheuert an. Zudem meldet sich mein fantasievolles Unterbewusstsein. Was, wenn es gar nicht Thea ist, sondern irgendein Dämon oder etwas anderes Schreckliches? Ich bin wahrlich nicht religiös, aber gerade überlege ich, ob wir irgendwo ein Kreuz in der Wohnung haben. Sicher ist sicher. Da bewegt sich mein Stressball. Er hebt sich von meinem Schreibtisch und springt mir ins Gesicht.

Ich kreische auf und zucke heftig zusammen. Der Schrecken sitzt so tief, dass es mir nicht einmal peinlich ist. Das Blut rauscht in meinen Ohren und ich muss mich am Tisch festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Heilige Scheiße. Ich brauche eine Minute, um meine Fassung wieder zu gewinnen. Vielleicht sind es auch zwei.

„Du… willst mir nichts antun, oder?“, frage ich mit brüchiger Stimme. Ich muss ein jämmerliches Bild abgeben. Zu Tode verängstigt und dumme Fragen stammelnd. Doch es funktioniert. Meine Tastatur klackert und ich bekomme eine Antwort zu lesen.

Ich brauche deine Hilfe. Ich bin gestern (nicht) gestorben. Ich bin ein Geist oder so etwas in der Art. Ich habe keine Ahnung von Geistern. Du schon. Hilf mir zu verstehen, was mit mir geschehen ist. Ich will wieder ein Mensch werden. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden kann. Du siehst ja, wie ich dich schon verängstige. Jemand, der nicht an Geister glaubt, bekommt noch einen Herzinfarkt.

Ich rolle meinen Schreibtischstuhl wieder zum Tisch und setze mich. Meine Knie sind weich. Noch immer rast mein Herz und ich kann nicht behaupten, dass ich keine Angst mehr habe. Trotzdem fühle ich mich etwas besser. Ich blicke mich in meinem Zimmer um, versuche einen Schemen zu erspähen oder irgendetwas, um zu wissen, in welche Richtung ich sprechen sollte. Ich kann nichts erkennen. Ein Bisschen lässt es mich an meinem Verstand zweifeln. Plötzlich muss ich schmunzeln. Wahrscheinlich bin ich einfach verrückt und es ist ein Tagtraum, doch irgendwie total faszinierend. Ich beschließe, mich darauf einzulassen. Dass ich keinen echten Geist verärgern will, spielt dabei vielleicht eine klitzekleine Rolle.

„Also gut, Thea“, beginne ich und versuche mich an das zu erinnern, was ich weiß. „Genau genommen bist du ein Gespenst. Geister von Toten nennt man Gespenster. Ich werde dir helfen, aber ich weiß nicht, ob du wieder ein Mensch werden kannst.“

Eigentlich glaube ich nicht, dass es überhaupt möglich ist, aber ich bleibe dabei, ich will kein Gespenst verärgern. „Erzähle mir, was genau du weißt.“ Gespannt sehe ich zu, wie sich langsam weitere Worte bilden.

Thea schreibt mir, was sie erlebt hat und, meine Güte, ich sehe es mit eigenen Augen und kann es trotzdem kaum glauben. Sie denkt, dass ich viel mehr über Geister weiß, als es tatsächlich der Fall ist. Ich muss ihr gestehen, dass dem nicht so ist und mein Interesse von einer sehr mitreißenden Erzählung meiner Tante über eine Geisterbeschwörung stammt und mich die Spannung und unheimliche Stimmung dabei reizt.

Je mehr wir miteinander kommunizieren, desto entspannter werde ich. Ich sitze auf meinem Bett, das neben dem Schreibtisch steht, und rede. Sie sitzt auf dem Stuhl und tippt am Computer. Ich muss sogar lachen, als mir durch den Kopf geht, dass ich bei einem Geist lockerer umgehen kann, als mit einem realen Menschen. Die Zeit vergeht wie im Fluge, meine Mutter ist inzwischen wieder zurückgekehrt. Da ich oft Voice-Communication beim Spielen benutze, ist es für sie nicht ungewöhnlich, mich alleine sprechen zu hören.

Thea und ich beginnen aus Neugierde ein paar einfache Versuche. Ich kann sie gar nicht sehen. Sie erzählt mir von den Fotos, die die Polizei anfertigte und ich fotografiere mit meinem Handy in ihre Richtung. Auch ein paar Mal mit Blitz. Diesen kann sie spüren, auf den Bildern ist sie nicht drauf. Warum? Keine Ahnung. Berührungen sind noch mysteriöser. Ich kann sie nicht berühren, es sei denn, ich weiß genau, wo sie sich befindet. Selbst dann wirkt es eher wie eine Einbildung auf mich. Schwer zu beschreiben. Wenn sie mich berührt, ist es, als ob ein Windhauch über meine Haut streicht. Feste Gegenstände hingegen kann sie problemlos bewegen.

Es ist jedoch total nervig, dass sie alles, was sie mir mitteilen will, niederschreiben muss. Doch auch dafür finden wir eine Teillösung. Ich stelle Ja/Nein-Fragen oder gebe ihr Antwortmöglichkeiten vor, sodass sie nur die Nummer der Antwort tippen muss. Nicht ideal, aber ein Anfang. Jetzt weiß ich, warum es Ouija-Bretter gibt.

Nach unseren Experimenten schreibt sie von ihrem Plan, vorerst in einem Möbelhaus zu wohnen, da sie dort niemanden stören würde, aber dennoch ein Bett hätte. Sie könnte sich sogar unter vielen eines aussuchen.

„Du kannst hier bleiben“, erwidere ich auf ihren Text. Mein Mundwerk überholte eindeutig meinen Kopf. Niemand, der bei klarem Verstand ist, lädt ein Gespenst ein, über Nacht zu bleiben. Doch einmal ausgesprochen, kann ich die Worte nicht mehr zurücknehmen. Oh, ich habe vergessen, ihr passende Auswahlmöglichkeiten zu geben. „Erstens: ja, ich bleibe hier. Zweitens: nein, ich bleibe nicht hier. Drittens: ich weiß es noch nicht. Viertens: da du mich eingeladen hast, habe ich jetzt meine vollen Kräfte über dich.“ Gespannt schaue ich auf den Monitor.

Viertens - jk, erstens. Danke!

Mein Herzschlag setzt für einen Moment aus. Sie bleibt. Nachdem ich zu lange stumm geblieben bin, tippt sie weiter.

Wirkst angespannt. jk = just kidding. Oder ist es dir nicht recht?

Sofort schüttle ich den Kopf, zaudere jedoch mit meiner Antwort. „Ist das erste Mal, dass ein Geist bei mir übernachtet.“, erwidere ich schließlich mit einem schiefen Grinsen und spüre, wie mir das Blut ins Gesicht steigt. Ich muss ihr ja nicht auf die Nase binden, dass auch noch nie ein Mädchen bei mir übernachtet hat.

Zusammen lesen wir mehrere Artikel über den Unfall und stoßen auf eine Anzeige der Polizei, die um Hinweise auf den Unfallverursacher bittet. Aus den Bildern vom Unfallort und den Beschreibungen lässt sich schließen, dass ein Auto sie beim Queren der Straße getroffen hat. Obwohl natürlich keine Leiche und auch kein Blut zu sehen sind, haben die Bilder eine morbide Wirkung auf uns. Die Markierungen der Spurensicherung, die aufgrund der Fahrerflucht herbeigerufen wurde, zeigen, dass Thea mehrere Meter weit geschleudert wurde und auf dem Radweg der querenden Straße zu liegen gekommen ist. Nach Eintreffen des Notarztes konnte dieser nur noch den Tod feststellen.

„Es kann nicht schwer sein, den Fahrer zu finden“, gebe ich grüblerisch nach einer Schweigeminute von mir. „Das Auto muss einen ordentlichen Schaden haben und die Airbags haben sicherlich auch ausgelöst. Sobald der in eine Werkstätte fährt, haben sie ihn. Kannst du dich denn an irgendetwas erinnern? Ich könnte ja den Tipp für dich bei der Polizei abgeben.“ Nichts geschieht. Keine Reaktion, keine Antwort. „Ehm, Thea?“

Keine Erinnerung. Ich werde ihn finden.

Mein Bauch zieht sich zusammen, als ich diese Antwort lese. Ich wusste gar nicht, dass so wenige Worte eine solche Aussagekraft haben können. „Ich werde dir helfen“, erwidere ich schließlich. Ich habe zwar keine Ahnung, wie ich das anstellen soll, doch es fühlt sich richtig an. Der Fahrer ist ein Mörder und muss dafür zur Rechenschaft gezogen werden.

Du bist schwer in Ordnung.

Ich lache kurz. Froh, dass die düstere Stimmung, die gerade Einzug erhalten hat, sich wieder auflockert. „Danke. Ich wusste schon immer, dass ich besser mit Geistern als mit lebenden Menschen umgehen kann.“

Weiter bei Kapitel 4 - Thea

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