Mittlerweile ist es deutlich nach elf Uhr nachts. Ich sitze schon viel zu lange auf dem Schreibtischstuhl bei Tom. Dummerweise muss ich meinen Teil des Gesprächs immer tippen. Das nervt! Je länger ich herumsitze, desto mehr habe ich das Verlangen, irgendetwas anzustellen. Irgendeinen Unsinn. Es juckt mir unter den Fingernägeln. Doch ich will es mir nicht gleich mit Tom verscherzen, also verdränge das Gefühl und konzentriere mich wieder. Finger auf die Tasten und weiter geht’s.
Würdest du mich zu meinen Eltern begleiten und ihnen erklären, was mit mir passiert ist?
Er antwortet nicht sofort. Seine Augen weiten sich, zucken suchend in dem vom Monitor erhelltem Zimmer hin und her. Seufzend helfe ich ihm.
Sitze noch immer auf dem Stuhl.
„Jaja“, entgegnet Tom und sieht mich an. „Hältst du es wirklich für eine gute Idee, dass ich ihnen das mitteile? Ich kenne sie ja gar nicht. Sie kennen mich nicht.“
Oh Mann. Würde ich es für eine schlechte Idee halten, hätte ich es nicht geschrieben. Zumal meine Auswahl an Personen, die dafür in Frage kommen, gerade nicht groß ist. Um es in Zahlen auszudrücken: eine Person: Tom. Wie kann ich ihm die Bedenken nehmen? Ich steh auf und gehe ein paar Schritte hin und her. Gehen hilft beim Denken. Doch wie ich es in meinem Kopf drehe und wende, ein wirklich überzeugendes Argument fällt mir nicht ein.
„Thea!“, höre ich seine bestürzte Stimme. Ich wende mich zu Tom. Er schaut mich an. Ich sehe ihn an. Er blickt zurück. Er… was?
„Ich sehe dich!“ Er klingt noch immer bestürzt.
Verblüfft benötige ich eine Sekunde, dann grinse ich. Wie war das bei Avatar? „Das heißt: Oel ngati kameie“, erwidere ich. Ja, ich mag Science Fiction. Ja, ich mag Filmzitate. Ja, ich war eigentlich zu jung, um Avatar im Kino zu sehen, aber Papa hat mich trotzdem mitgenommen.
„Was?“, fragt Tom verwirrt. „Ich meine, ich sehe dich. Ich kann dich sehen. Mit meinen Augen.“
„Das ist doch gut!“, sage ich freudig. „Hörst du mich auch? Kannst du mich verstehen?“ Erleichtert atme ich durch. Das ist eine positive Entwicklung. Würde da nicht die kleine, lästige Frage nach dem Warum in meinem Hinterkopf lauern.
„Ja ich höre und sehe dich, aber du bist durchscheinend.“ Tom begafft mich noch immer, als wäre ich ein Geist. Gut, ich bin ein Geist, trotzdem ist es unangenehm, so angestarrt zu werden. Ich betrachte meine Finger im schwachen Licht des Monitors. Ich schüttle den Kopf, will sagen, dass ich mich normal sehe. Er greift nach seinem Handy und richtet es auf mich. Blitz!
„Stopp!“, rufe ich zu spät. Das Kribbeln fährt durch meinen Körper. Es tut nicht weh, dennoch ist es unangenehm. Wie eine elektrostatische Entladung, wenn man aufgeladen ist und etwas Leitendes berührt. Tom ist jedoch zu überrascht, um es zu realisieren. Er blickt auf sein Handydisplay und dreht es dann zu mir. Ich sehe mich selbst. Den Mund weit geöffnet, bei meinem vergeblichen Versuch, mich zu wehren. Außerdem bräuchten meine Haare dringend Zuwendung. Als ob das nicht schon schlimm genug ist, bin ich tatsächlich halb durchscheinend. Wie in einem schlechten Film! Nagut, ist so. Solange er nicht nur jedes zweite Wort von mir hört, kann ich damit leben. Besser als zuvor.
„Okay, aber lösch das Foto wieder, ich sehe darauf furchtbar aus.“, fordere ich Tom auf. Ich lass mich wieder auf den Stuhl plumpsen und streife mit den Fingern durch meine Haarpracht, um sie mir über die linke Schulter nach vorne zu legen. Nicht ideal, aber besser. „Warum siehst und hörst du mich plötzlich? Ich habe nichts getan oder verändert.“
Tom tippt auf seinem Handy rum. Ich hoffe, er löscht wirklich das Bild und teilt es nicht soeben auf Insta, FaceBook und wer weiß wo noch überall. Dann runzelt er die Stirn und starrt mich schon wieder gehetzt an, ohne ein Wort zu sagen. Meine Güte, wie kann ich ihm die Nervosität nehmen? Er steckt mich damit noch an.
„Ja“, gebe ich seufzend von mir. „Ich bin ein Geist. Halb durchsichtig und richtig gespenstisch und gruselig. Aber ich sitze schon Stunden bei dir, können wir nicht normal weiterreden?“
„Das ist es nicht“, stammelt er. Bevor ich fragen kann, was es dann ist, tippt er wieder auf sein Mobiltelefon und zeigt es mir. Er deutet auf die Uhrzeit. „Es ist Geisterstund.“
„Hä?“
„Es ist kurz nach Mitternacht. Um Mitternacht beginnt die Geisterstund und geht bis ein Uhr in der Früh.“, erklärt er mir. „Ich glaube, du bist genau um Mitternacht sichtbar geworden. Wenn du um ein Uhr wieder weg bist, wissen wir es sicher.“
„Das ergibt doch keinen Sinn. Was, wenn wir in Spanien wären? Da ist noch gar nicht Mitternacht. Warum soll es genau mit unserer Zeit klappen?“, sprudle ich heraus. Der Gedanke, dass ich nach der Stunde wieder unsichtbar und de facto stumm bin, gefällt mir gar nicht.
„In Spanien ist jetzt auch Mitternacht. Zumindest am Festland.“
Ich rolle mit den Augen. „Klugscheißer. Du weißt, was ich meine.“
Tom zuckt zusammen, als hätte ich ihn geschlagen. Langsam dämmert mir, was mit ihm los ist. Um es nicht schlimmer zu machen, spreche ich es jedoch nicht an. Ich setze eine freundlichere Miene auf.
„Also gut, zumindest habe ich so eine Stunde Zeit, um halbwegs normal mit Leuten in Kontakt zu treten. Das ist zumindest ein Anfang. So kann ich dann auch mit Mama und Papa reden. Trotzdem muss sie jemand darauf vorbereiten. Am besten gleich morgen.“ Tom zaudert. „Bitte…“
„Okay“, willigt er schließlich ein. „Dafür schuldest du mir jedoch etwas.“
„Was immer du willst“, stimme ich sofort zu, erleichtert, nicht noch länger betteln zu müssen. Um keine peinliche Stille aufkommen zu lassen, quatsche ich weiter. „Hast du jemals einen anderen Geist… erlebt, beim Geister beschwören? Oder etwas, das du dir nicht erklären konntest?“
„Nein, ich habe nie irgendetwas bemerkt. Manchmal habe ich jedoch so getan, als wäre da etwas, um es für die anderen spannender und unheimlicher zu machen. Aber vielleicht findest du andere Geister. Vielleicht kannst du mit ihnen in Kontakt treten.“
Ich hebe kurz die Schultern an. „Viele gibt es wohl nicht, denn bislang ist mir keiner über den Weg gelaufen. Vielleicht… ist man auch nicht unbegrenzt lange ein Geist, sondern irgendwann auch wirklich tot. Der Gedanke gefällt mir nicht. Ich will nicht sterben, nicht endgültig. Dann lieber so, wie es jetzt ist.“
„Das will ich auch nicht“, stimmt Tom leise zu. „Es gibt da eine Theorie, dass Geister, also Gespenster von toten Menschen noch hier sind, weil sie irgendeine unerledigte Aufgabe haben. Und wenn sie diese erfüllen, dann können sie in Frieden ruhen. Hast du eine solche Aufgabe oder würde dir da etwas einfallen? Es sollte aber schon etwas Bedeutendes sein.“
Ich schürze die Lippen und überlege. Es gibt vieles, was ich noch tun will. Tun wollte. Zum Beispiel mein Leben leben, bis ich uralt und senil bin. Die Schule abschließen. Die Führerscheinprüfung irgendwann schaffen. Eine Familie gründen, wobei das noch eine ganze Weile Zeit hätte. Aber das sind doch nur ganz normale Sachen, nichts wirklich Außergewöhnliches. Oh, da kommt mir doch tatsächlich etwas in den Sinn!
„Vielleicht ist es meine Aufgabe, meinen Mörder zu finden und ihm heimzusuchen“, sage ich zu Tom. Es wird Zeit, ein dämonisches Grinsen einzustudieren!